· Von Lothar Wekel

IM GESPRÄCH: Christian Kortmann

Was bleibt, wenn ein geliebter Mensch geht? In seinem neuen Buch nähert sich Christian Kortmann dieser Frage mit stiller Dringlichkeit. Als sein Vater stirbt, beginnt der Autor – mitten im beruflichen Hochbetrieb – zu schreiben: tastend, erinnernd, mit sanfter Klarheit. Entstanden ist ein vielstimmiges Selbstgespräch über Verlust, Nähe und das Weiterleben mit dem, was war.

Im Interview spricht Kortmann über die zarte Kraft der Erinnerung, das Schreiben als Halt – und über die überraschende Lebenskunst eines Vaters, der „in keiner Sache außergewöhnlich begabt war – außer im Leben selbst.“

Christian Kortmann, Ihr neues Buch Mein Vater ist nicht gestorben ist das Zeugnis einer intimen, sehr zugewandten Auseinandersetzung mit dem krankheitsbedingten Tod Ihres Vaters. Wir lesen von Ihrer liebevollen Beziehung zu einem ausgesprochen kultivierten, begeisterungsfähigen und sanften Mann, dessen Lebenskunst Sie in Form von Reflexionen und Erinnerungen zu würdigen verstehen. Es ist sowohl eine literarische Trauerarbeit wie auch ein Denkmal für Ihren Vater. Haben Sie, als Sie zu schreiben begannen, das Konzept für Ihr Buch schon klar vor Augen gehabt?

Es begann im Moment der tödlichen Diagnose mit dem Aufzeichnen von Erinnerungen an meinen Vater und Gedanken über Verlust, den ich bis dahin nicht kannte und nun schmerzlich kennen lernte. Zunächst dachte ich an einen Text nur für den engsten Kreis – das Buch ist meiner Mutter gewidmet. Manchmal verdichten sich private Notizen zu Prosa. Und manchmal erwächst aus dieser privaten Prosa Literatur. So ist es in diesem Fall geschehen.

 

Hat sich Ihr Denken und Fühlen im Verhältnis zu Ihrem Vater, aber auch zu Themen wie Familie, Kindheit, Einsamkeit, Tod verändert während der Arbeit?

Durch den Verlust habe ich meinen Vater noch einmal neu kennengelernt. Und zwar weniger in seiner Vaterrolle, die er nun nicht mehr ausfüllen konnte. Ich habe mich zum ersten Mal mit ihm als freiem, unabhängigem Menschen und seinem Lebensentwurf beschäftigt. An einer Stelle schreibe ich, ich möchte verstehen, wer er war, um besser zu verstehen, wer ich nicht bin. Der Tod der Eltern markiert in gewisser Weise das Ende der eigenen Jugend. Ohne meinen Vater ist die Welt für mich zu einem noch einsameren Ort geworden.

 

Welches Bild oder welcher Gedanke steht hinter dem Titel Mein Vater ist nicht gestorben, und was zeigt die Fotografie auf dem Buchumschlag?

Die Fotografie zeigt eine Moorlandschaft im Norden von Hamburg. Diese Landschaft mit ihren weiten Horizonten, in der wenig und zugleich viel geschieht, ist die ideale Leinwand für Erinnerungen. Wenn ich an ihn denke, über ihn schreibe, von ihm träume, dann lebt mein Vater in diesen erdachten Erfahrungsräumen weiter.

 

Welcher Mensch war  ihr Vater war! Was hat ihn für Sie und andere besonders gemacht?

Gute Frage, für die Antwort habe ich ein ganzes Buch gebraucht … Kurz gesagt, war mein Vater ein bescheidener, humorvoller und im besten Sinne liberaler Genussmensch, dessen Lebensklugheit, ja, Weisheit, und schillernder Charakter um so klarer hervortraten, je näher man ihm kam. Selbst meine Mutter, die ihn von allen Menschen wohl am besten kannte, staunt heute noch, mit was für einem Großmeister der Lebenskunst sie fast ein halbes Jahrhundert verbracht hat.

 

Sie führen im Buch unter anderem lebhafte Dialoge mit Ihrem verstorbenen Vater. Wie greift eine nicht mehr existierende Person in unsere Existenz ein? Was denken Sie über den Einfluss vergangener Welten auf unser Leben?

Materiell hat mein Vater mir nichts vererbt, ich betrachte mich aber als reichen Gedanken- und Verhaltenserben. Die Fortsetzung des Dialogs und das Bewahren des Schönen, Guten und Wahrhaftigen ist die vielleicht vornehmste Aufgabe der Kunst und vor allem des Schriftstellers. Um dieses Gespräch fruchtbar zu führen, muss man akzeptieren, dass das Gegenüber gegangen ist, und lehnt sich zugleich gegen das Verstummen auf. Andere Menschen, heute oder in ferner Zukunft, werden das Buch lesen und den Dialog vielleicht weiterführen – wir senden und empfangen über lange Distanzen. 

 

Die Erzählung ist im Stil eines persönlichen und freien Gedankenflusses gehalten. Dadurch reihen sich tiefe menschliche Einsichten in loser, intuitiver Art neben geistige Lichtblitze oder auch akribisch notierte Erinnerungen. Mit welchem Gefühl schlagen Sie das Buch heute, Jahre nach dem Tod Ihres Vaters, wieder auf?

Mit großem Glück und tiefer Zufriedenheit! Ich lese zum einen vertraute Gedanken, zum anderen aber auch Fremdes, Surreales, das mein damaliges Ich zur Niederschrift brachte. Hätte mir in der psychischen Extremsituation die Kulturtechnik des Schreibens nicht zur Verfügung gestanden, hätte ich den Verlust auch noch verloren.

 

Wie hätte Michael Kortmann, Ihr Vater, das Erscheinen eines Buchs zu seinen Ehren wohl kommentiert?

Hm, er hätte wohl ungläubig den Kopf geschüttelt und zugleich strahlend gelächelt. Dann wäre er mit dem Buch in seinem Lesezimmer verschwunden und hätte später bei Riesling und Abendpfeife weitergelesen. Nach der Lektüre hätte er, so hoffe ich, gesagt: »Da bin ich begeistert, mein Junge!«

 

Die meisten von uns verlieren irgendwann ein geliebtes Familienmitglied. Wie beurteilen Sie unseren gesellschaftlichen Umgang mit Verstorbenen? Welche persönlichen Möglichkeiten oder Einschränkungen erlebt man im Trauerfall? Welche Formen der Auseinandersetzung sehen Sie?

Jeder Tod, jeder Verlust ist anders. Ich habe die natürliche Generationenfolge erlebt, die in der Gesellschaft gut eingeübt ist, und viel Beileid und Verständnis erfahren. Wenn jüngere Menschen sterben, erlebe ich verständlicherweise eine große Rat-und Sprachlosigkeit. Doch wenn man über seinen Verlust spricht, schreibt oder andere Ausdruckswege findet, stößt man bei anderen auf Resonanz, weil das Thema alle • Menschen berührt. Wir alle verlieren irgendwann irgendwen'— und gehen am Ende selbst verloren. Ich habe mich tief in die Trauer hinein- und schließlich auch wieder herausgeschrieben. Die Trauer geht, doch der Verlust bleibt.